Einleitende Gedanken zu den Nachbesprechungen und Publikumsgesprächen anlässlich des internationalen Theater - Festivals FOCUS unter dem Motto „Theater grenzenlos, 25 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs“ vom 18. - 22. Juni 2014 in Leopodschlag/ Österreich

 

Gedanken über Grenzen

Grenzen werden geschaffen und gezogen, übertreten und überwunden, verschieben sich oder lösen sich auf: wir alle waren erleichtert, als der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West vor fünfundzwanzig Jahren fiel und feiern dies mit diesem Theaterfestival. Der Weg hierher nach Leopoldschlag führte manche der teilnehmenden Gruppen über Landesgrenzen, für viele ist der Weg durch die Öffnung der Grenzen einfacher geworden als vor 25 Jahren.

Und doch sitzen wir wieder fassungslos vor den Bildschirmen und haben Angst, was Grenzüberschreitungen und das in Frage stellen von Grenzen, zum Beispiel in der Ukraine, aber auch in Südossetien und Abchasien, im Irak und Syrien aber auch in Lampedusa für uns, für die betroffenen Völker und die Welt bedeuten mögen. Flugs werden neue Grenzen errichtet.

Zu dem Wort Grenze gehören die Begriffe Toleranz, Respekt, Autonomie, Verantwortung, Flexibilität Resilienz, (Resilienz ist die Fähigkeit eines Systems, mit Veränderungen umgehen zu können.) Gewissen, Macht und Ohnmacht.

An Anfang dieses Namensfeldes mag eine Bagatelle stehen: „Bei jemandem ins Fettnäpfchen treten“ – und am Schluss geht es um den militärischen Einmarsch in ein anderes Land. Bei dieser, manchmal nicht vom Völkerrecht gedeckten, Entscheidung, geht es um Landesgrenzen und um die vermeintliche Verfügbarkeit der Soldaten und der betroffenen Zivilisten. Das Wort Grenzen ohne zugedachte Interessen gibt es nicht.

Grenzen sollen schützen und deshalb eingehalten werden. Aber oft müssen sie überschritten werden, um starre Gitter zu weiten, neue Horizonte zu eröffnen, andere Sicht- und Denkweisen zuzulassen, gerechtere Verhältnisse zu schaffen: die Emanzipation und Gleichberechtigung der Frau in unserem Kulturkreis mag hier als positives Beispiel dienen. Das Hinausschieben von Grenzen, was die digitale Welt betrifft oder die Wissenschaft zum Beispiel in der Genforschung vollführt, erfüllt dagegen viele mit Sorge.

Wie schnell Grenzübertretungen in die Kritik geraten, wird an einem Beispiel aus der Politik deutlich: die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD, eine 1964 gegründete rechtsextreme dt. Kleinpartei), hatte den deutschen Bundespräsidenten Gauck beim Bundesverfassungsgericht verklagt, weil er sie mit dem Begriff „Spinner“ belegt und damit das Prinzip der Unparteilichkeit verlassen habe. Das Gerichtsurteil vor ein paar Tagen lautete: diese Wortwahl habe die Grenze der Unparteilichkeit nicht überschritten. Im Gegenteil. Das Amt des Bundespräsidenten erfordere es, unrechtmäßige Gesinnung beim Namen zu nennen.

Wann immer zwei Menschen beieinander sind, ist eine unbewußte Grenze zwischen ihnen, die eingehalten werden müsste, aber oft überschritten wird: das Territorium des anderen zu achten; nicht verletzend in die Autonomie des anderen eingreifen; nicht bloßstellen und abwerten. Bei jedem Familienstreit geht es um Grenzziehungen: ein gesundes Miteinander erfordert Flexibilität, ständiges neues Ein- und Austarieren der unsichtbaren Grenzen. Die müssen erkannt und können dann erst verschoben werden.

Grenzen sind notwendig. Nicht nur in der Kindererziehung: ohne Grenzen würde der Einzelne, würde die Gemeinschaft, würden die Nationen im Chaos, in der Anarchie versinken. Beispiele gibt es in der Geschichte und in der heutigen Zeit zur Genüge.

Wir Menschen als Individuen brauchen Struktur, und Struktur braucht Grenzen zwischen Außen und Innen. Wir alle kennen das Sprichwort „Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach!“ Seit Sigmund Freud gibt man den Träumen, dem Unbewussten eine Daseinsberechtigung.Die heutige Psychologie spricht von der Achtsamkeit, die man den Dingen, aber auch seinem Selbst geben soll. Achtsam nach Innen schauen, heißt Grenzen erkennen. Zitat aus dem Buch „Weisheit“ von Gert Scobel:„Weisheit beinhaltet eine ausgewogene Toleranz gegenüber Verschiedenheit und ein Wissen über Grenzen. Weisheit weiß um Tugend und Laster, positive und negative Auswirkungen unseres Handelns.“

Die daraus entstehenden Grenzkonflikte der menschlichen Natur können im Theater durchgespielt werden: Theater sucht den Konflikt und stirbt mit der Verständigung. Geburt und Tod sind die Grenzen unseres Lebens. Dazwischen spielt sich unser Leben ab. Schiller sagte: Ernst ist das Leben, heiter die Kunst“. Durch die Allegorien im Schauspiel, durch den Klamauk in den Komödien, durch Streit und Versöhnung auf der Bühne werden Fragen nach den Grenzen in das Publikum geworfen, die zu Nachdenklichkeit anregen mögen.

Ich komme noch mal zurück auf den Begriff des „Eisernen Vorhangs“: er beschreibt in Politik und Zeitgeschichte eine sowohl ideologisch wie tatsächlich „unüberwindbare“ Grenze nach ihrem Vorbild aus dem Theaterbau – dort wurde er wegen oft auftretender Brände in vergangenen Jahrhunderten als Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühne erfunden. Aber es scheint sich mehr und mehr auch eine unsichtbare Grenze zwischen Zuschauern und Bühne aufzutun: in Deutschland gehen die Theaterbesuche massiv zurück. Und das als anhaltender Trend. In den letzten 60 Jahren sind die Schauspielbesuche in den öffentlich geförderten Theatern um etwa 60 % gesunken. Warum? Ich zitiere aus einem Vortrag:

(„Das Theater der digitalen Gesellschaft“ Theatertreffen NRW, Dortmund 13.06.2014, Dr. Ulf Schmidt, www.postdramatiker.de)Theater wirken nicht mehr in die Gesellschaft hinein. Und die Gesellschaft findet sich nicht mehr im Theater wieder.“ Wenn das so wäre, wäre es schlimm: „Weil Theater einer der wenigen Orte der Gesellschaft in der Gesellschaft ist, an dem sich über Gesellschaft in Gesellschaft ästhetisch reflektieren lässt.“

So bin ich den Veranstaltern und allen Teilnehmern dieses Festivals schon jetzt dankbar, dass wir mit diesem Zusammenfinden im Gespräch eine eventuelle Grenze zwischen Zuschauern und Bühne gar nicht erst aufkommen lassen. Theater als Ort des Gesprächs: nutzen wir diese großartige Möglichkeit zum Austausch und zur Reflektion über das Gesehene – darauf freue ich mich! Herzlichen Dank!

 

Theater kann die Welt nicht verändern, aber die Sinne

schärfen und barrierefreies Denken fördern. Das ist doch

eigentlich eine ganze Menge.

(Knut Weber)