Nobelvorlesung

Kunst, Wahrheit & Politik

 Harold Pinter (2005)

1958 schrieb ich folgendes:

„Es gibt keine klaren Unterschiede zwischen dem, was wirklich und dem was unwirklich ist, genauso wenig wie zwischen dem, was wahr und dem was unwahr ist. Etwas ist nicht unbedingt entweder wahr oder unwahr; es kann beides sein, wahr und unwahr.“

Ich halte diese Behauptungen immer noch für plausibel und weiterhin gültig für die Erforschung der Wirklichkeit durch die Kunst. Als Autor halte ich mich daran, aber als Bürger kann ich das nicht. Als Bürger muss ich fragen: Was ist wahr? Was ist unwahr?

Die Wahrheit in einem Theaterstück bleibt immer schwer greifbar. Man findet sie niemals völlig, sucht aber zwanghaft danach. Die Suche ist eindeutig der Antrieb unseres Bemühens. Die Suche ist unsere Aufgabe. Meistens stolpert man im Dunkeln über die Wahrheit, kollidiert damit oder erhascht nur einen flüchtigen Blick oder einen Umriss, der der Wahrheit zu entsprechen scheint, oftmals ohne zu merken, dass dies überhaupt geschehen ist. Die echte Wahrheit aber besteht darin, dass sich in der Dramatik niemals so etwas wie die eine Wahrheit finden lässt. Es existieren viele Wahrheiten. Die Wahrheiten widersprechen, reflektieren, ignorieren und verspotten sich, weichen voreinander zurück, sind füreinander blind. Manchmal spürt man, dass man die Wahrheit eines Moments in der Hand hält, dann gleitet sie einem durch die Finger und ist verschwunden.